„Das darf sich nie mehr wiederholen“
Pfadfinder gedenken der Reichspogromnacht im November vor 71 Jahren
Nürnberg. Mehr als 30 Pfadfinderinnen und Pfadfinder haben der Reichskristallnacht gedacht. Im Gespräch mit dem deutschen Zeitzeugen Walter Schatz im Pfarrheim St. Josef Allerheiligen beschäftigten sie sich mit einem dunklen Kapitel deutscher Geschichte.
Seine erste Erinnerung gleicht einem Alptraum. „Wir hörten damals lautes Poltern und das Marschieren der SA“, berichtet der Nürnberger Walter Schatz. Damals – das war der 9. November 1938. Walter Schatz wohnt mit seiner Familie am Prinzregentenufer, einer Gegend mit alten Jugendstilvillen, viele davon im Besitz jüdischer Familien. Schatz ist gerade sechs Jahre alt. „Ich sehe heute noch meine Mutter vor meinem Vater knien. Sie flehte ihn an, nicht hinaus zu gehen“, erzählt er. „Sonst schlagen sie dich tot“. Diese Szene hat er nie vergessen. „Das ist das erste, woran ich mich erinnern kann.“ Bis heute kämpft der Journalist Walter Schatz mit der Stiftung „Bürgerbewegung für Menschenwürde in Mittelfranken“ gegen extremes Gedankengut.
Die rund 30 versammelten Pfadfinderinnen und Pfadfinder der deutschen Pfadfinderschaft St. Georg (dpsg) im Erzbistum Bamberg hören aufmerksam zu. Schatz berichtet von verheerenden Verwüstungen. „Die SA hatte Dolche, damit schlitzten sie Betten unserer jüdischen Nachbarn auf. Tausende Federn segelten durch die Nacht. Spiegelkommoden flogen aus den Fenstern krachend auf den Hof“, erzählt er. Schlimmer noch als die Zerstörung der Besitztümer waren die Angriffe auf die jüdischen Bewohner. „Die Nazis prügelten auf die Menschen ein, manche brachten sich aus Verzweiflung um“, sagte er. Die nationalsozialistische Propaganda habe später von „spontanem Volkszorn“ gesprochen und damit geleugnet, dass Angehörige von Hitlers SS und SA die gewalttätigen Ausschreitungen geplant hatten. „Die jüdische Synagoge unweit des Opernhauses brannte lichterloh. Daneben stand die Feuerwehr. Sie schaute zu und griff irgendwann nur ein, um Nachbargebäude zu schützen“, so Schatz.
Schatz beschreibt die perfide Propaganda: „Es war, als ob wir unter eine Käseglocke gelebt hätten. Die Propaganda säuselte uns in den Ohren. Zu Hause redete niemand über Politik. Die Angst war zu groß, dass wir Kinder in der Schule ein falsches Wort sagen“, erzählt er. Zeitungen, Radioprogramme – alle Medien seien damals gleichgeschaltet worden. „Auch Versammlungen waren unmöglich. Hätte es ein Treffen wie heute Abend gegeben – noch dazu organisiert von einer katholischen Organisation – da hätte mindestens der Blockwart vorbei-geschaut“, sagt er.
Im April 1945 sieht der Jugendliche Walter Schatz die Flugzeuge der Alliierten. „Wir sahen die Bomber wie Miniaturflugzeuge über uns am blauen wolkenlosen Frühlingshimmel“, schildert er seine Beobachtungen. „Ehrlich gesagt, waren wir nach den 56 Luftangriffen und den ständig heulenden Sirenen froh, nicht ihr Ziel zu sein.“ Erst später erfuhr er, wohin die Amerikaner flogen, um ihre Bomben abzuwerfen: Dresden.
Die Städte fielen, die Propaganda der Nationalsozialisten blieb bestehen und wurde von vielen weiter geglaubt. „Als amerikanische Panzer in den Straßen zu sehen waren, brüllte jemand quer über den Hof von der angeblichen Wunderwaffe Hitlers“, erzählt Schatz. Bis zuletzt seien viele Deutsche dem Glauben erlegen, dass Hitler im Recht sei und den Krieg gewinnen würde.
Wann wäre der richtige Zeitpunkt gewesen, sich zu wehren, wird Schatz gefragt. Gleich zu Beginn der Diktatur, so die Überzeugung des Journalisten. „Hätten die Leute Hitlers Buch ‚Mein Kampf‘ gelesen, hätten sie gewusst, was er vorhatte“, so Schatz.
Der Abend endet mit einer Mahnung: „Heute poltern Nazis nicht mehr in Springerstiefeln durch die Straßen, aber rechtes Gedankengut gibt es nach wie vor.“ Sein Motto laute deshalb „Wehrtet den Anfängen.“ Eines ist für Walter Schatz und den Pfadfindern klar: Die Nacht der Schande, wie Juden die Reichskristallnacht nennen, darf sich nie mehr wiederholen.
Hintergrundinformation
Mit der Stiftung „Bürgerbewegung für Menschenwürde in Mittelfranken“ kämpft Walter Schatz gegen extremes Gedankengut. Die Bewegung wurde im November 2000 als eingetragener Verein angesichts wachsender Gewaltbereitschaft und zunehmender Neigung zu politischem Extremismus gegründet.