Frieden finden im Kleinen

Durch das Freiwillige Soziale Jahr im Waldkindergarten hat Finn Speier einen neuen Blick auf die Welt. Begleitende Seminare erweitern den eigenen Horizont zusätzlich.
Auf der Wiese sind überall leere Getränkekisten verteilt, in der Mitte formt ein Seil einen Kreis. Die Teams kämpfen um die Kisten. Jede Gruppe hat eine andere Aufgabe. Mittendrin der 19-jährige Finn Speier. Er rennt über die Wiese, reißt anderen die Kisten aus den Händen und trägt sie dann in die Ecke seine Teams. Er lacht viel, macht Witze. Schließlich stapeln sich alle Kisten in einer Ecke der Wiese. Finns Team hat gewonnen.
Seit September 2019 arbeitet Finn im Rahmen eines Freiwilligen Sozialen Jahres (FSJ) im Waldkindergarten Uttenreuth in der Nähe von Erlangen. Neben der Arbeit in ihren Einrichtungen treffen sich im Februar die jungen Erwachsenen, die ein FSJ oder den Bundesfreiwilligendienst (BFD) in Trägerschaft des Jugendamtes der Erzdiözese, der Caritas e.V. und des BDKJ machen, in Obertrubach zum Seminar. Dort können sich die Jugendlichen austauschen, Gemeinschaft erleben und Freundschaften schließen.
Zusammen mit den Pädagoginnen und Pädagogen des Jugendamts der Erzdiözese stellen sie sich aber auch gesellschaftlichen Fragen, die unser aller Leben beeinflussen. Finn hat sich für das Thema Gewalt entschieden. Das ist auch im Kindergarten immer wieder relevant. „Für Kinder ist das oft ein Mittel sich auszudrücken, wenn sie nicht mehr weiterwissen“, sagt Finn. „Wir nehmen sie dann beiseite, versuchen die Ursachen des Problems zu finden, und regen sie dann dazu an, die Perspektive zu wechseln.“ Oft sei das der beste Weg, eine klare Grenze aufzuzeigen.
Nach dem spielerischen Auftakt mit den Getränkekisten in Obertrubach treffen sich die Jugendlichen im Seminarraum. In der ersten Einheit geht es darum, wo Gewalt beginnt. Die Pädagoginnen und Pädagogen konfrontieren die Jugendlichen mit Vorfällen – von Hänseln, über Anspucken im Bus bis Ultimate Fighting. Die Jugendlichen ordnen die Vorfälle nun jeweils für sich ein. Dazu stellen sie sich entlang eines Seiles auf. Die Skala reicht von „keine Gewalt“ bis zu „höchste Form der Gewalt“.
Finn steht stets bei denen, die sich bei den jeweils höchsten Werten positionieren. Dabei war er beim Auftakt mit den Getränkekisten einer derjenigen, die sich am stärksten durchgesetzt haben und am meisten gerangelt haben. Für Finn kein Widerspruch: „Das war aber auch ein Spiel, ein Wettbewerb“, sagt er. „Ich würde absichtlich nie jemandem wehtun oder einfach weitermachen, wenn jemand Stopp sagt.“ Als Pfadfinder sind ihm ähnliche Spiele vertraut. Dabei stehe der Spaß im Vordergrund. In seiner Pfadfindergruppe war er auch Gruppenleiter.
Weil ihm die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen so viel Freude bereitet, will er auch einen sozialen Beruf ergreifen. Bevor er nach dem Abitur an die Hochschule geht, wollte er gern etwas Anderes machen. Um die Welt zu reisen, fand er in diesem Moment nicht passend. Daher entschied er sich für ein Freiwilliges Soziales Jahr. Weil er etwas mit Kindern machen wollte, nahm er Kontakt zum Waldkindergarten auf. Schließlich gelang es ihm, die Erzieherinnen dort zu überzeugen. Das Jugendamt der Erzdiözese übernahm die Rechtsträgerschaft.
„Nach sechs Monaten kann ich schon sagen, dass das FSJ mir einen anderen Blick auf die Welt vermittelt“, sagt Finn. „Ich bekomme einen Einblick, wie andere Leute denken. Das eröffnet ganz neue Perspektiven.“ Zu arbeiten sei ganz anders, als in der Schule zu lernen.
Auch für Carina Greiner, die als Referentin im Jugendamt der Erzdiözese das FSJ betreut, ist das ein zentraler Aspekt des Freiwilligendienstes. „Für den Zusammenhalt in der Gesellschaft ist es ungemein wichtig, dass wir auch in der Lage sind, den Blickwinkel unseres Gegenübers einzunehmen.“ Schließlich lassen sich Konflikte nur dann lösen, wenn beide Seiten aufeinander zugehen. Frieden erwächst aus Verständnis. Das versuchen Finn und seine Kolleginnen und Kollegen schon den Fünfjährigen im Kindergarten beizubringen, und darum geht es auch bei dem Seminar des Jugendamtes der Erzdiözese in Obertrubach.
Nach dem Seminar geht für Finn der Alltag im Kindergarten wieder weiter. Zunächst. Doch ab Anfang März verändert sich im Waldkindergarten Uttenreuth alles. Zunächst bringen die Eltern jeden Tag heißes Wasser in Thermoskannen mit, damit sich die Kinder und das Personal regelmäßig mit warmem Wasser und Seife die Hände waschen können. Es sind erste Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie. Mitte März wird der Kindergarten erst mal geschlossen. Finn muss zu Hause bleiben, die Arbeit und die Kinder fehlen ihm. Schließlich kann er sich die Zeit auch nicht mit Freundinnen und Freunden vertreiben.
Doch schnell geht die Arbeit weiter – wenn auch nur mit einer Notgruppe. Gerade mal zwei Kinder kommen jetzt noch in den Kindergarten. Denen fehlen natürlich ihre Spielkameradinnen und Spielkameraden, aber dass die Erwachsenen jetzt viel mehr Zeit für sie haben, versöhnt sie mit der Situation. Der Kindergartenalltag hat sich radikal verändert. Aber auch die Planungen für das Freiwillige Soziale Jahr: Anfang Mai sollte eigentlich das Erlebnispädagogik-Seminar stattfinden –mit einem Tag im Hochseilgarten. Auch Finn hatte sich darauf gefreut. Vor allem darauf, seine neuen Freundinnen und Freunde wieder zu treffen und auf die gemeinsame Übernachtung im Freien. Daraus wird aber aufgrund der Corona-Pandemie nichts. Stattdessen findet das Seminar virtuell statt. Per Videokonferenz treffen sich die jungen Erwachsenen und sprechen über ihre Erfahrungen – mit Corona und mit dem Jahr im Freiwilligendienst.